Sozialdemokraten haben kein Klientel mehr ?

Judith Görs stellt in ihrem Artikel https://www.n-tv.de/politik/Warum-Europas-Genossen-am-Tropf-haengen-article20773788.html die These auf, dass der Niedergang der SPD und allgemein der Linken Parteien von ihren eigenen Erfolgen gefördert wird. Danach haben sich die Verhältnisse der klassisch links wählenden Arbeiterschaft in den vergangenen 100 Jahren so sehr verbessert, dass diese heute mehr an der Wahrung der errungenen Verbesserungen interessiert sind als an weiteren Kämpfen gegen die ehemals als besitzende Bürgerschicht bezeichnete „Klasse“. Der klassische Arbeiter existiert nicht mehr, heute sind viele eher auch Bürger und wählen auch „bürgerliche“ Parteien.

Ich denke, da ist etwas dran. Die alten Themen soziale Gerechtigkeit, Schutz der Arbeiter vor Ausbeutung und ähnliches sind zwar immer noch präsent, jedoch nicht mehr existentiell für viele Menschen.

Es gibt immer noch „prekäre“ Verhältnisse und es ist wichtig, hier weiter aktiv zu sein und für die Betroffenen Verbesserungen zu schaffen. Dies sind jedoch nicht die Arbeiterscharen vom Anfang des letzten Jahrhunderts, der Organisationsgrad oder auch nur die Erreichbarkeit dieser Menschen durch Organisation ist viel geringer. Diese Gruppe gewinnt keine Wahlen, schon gar nicht für linke Parteien.

Vor kurzem beging Deutschland den hundertsten Jahrestag der Ausrufung der Republik durch Philip Scheidemann. Damals haben sich die Sozialdemokraten an die Spitze einer Bewegung gestellt, nicht jedoch von sich aus etwa den Matrosenaufstand ausgelöst.

Das Festhalten an den Themen und Zielen vergangener Tage bringt keinen Erfolg. Die Themen sind ausgelaugt, die Parolen der linken Parteien erscheinen antiquiert. Auch die Gewerkschaften in Deutschland sind nicht mehr so stark wie früher. Sie repräsentieren ebenfalls nicht mehr die Massen der Wähler. Es gibt allerdings viele Spartengewerkschaften, die jeweils für sich mit zum Teil abenteuerlichen Forderungen immer wieder für Schlagzeilen sorgen. Da hier jedoch immer relativ kleine Gruppen auftreten, wird bei der größeren Menge der Wähler eher Unmut erzeugt und keine Gemeinschaft.

Ich glaube allerdings nicht an die These „Die Sozialdemokratie heute ist zu liberal“. Eine radikal linke Partei gewinnt auch keine Wahlen. Es ist für mich viel mehr so, dass die Linken Parteien heute nach wie vor versuchen, die Diskussionsthemen selber zu benennen anstatt die Themen, die die Mehrheiten bewegen, wirklich aufzugreifen.

Wir sehen im europäischen Ausland und darüber hinaus, dass es vielmehr Bewegungen „von unten“ sind, die Wahlen gewinnen. Emmanuel Macron ist in Frankreich Präsident geworden an der Spitze einer neuen Bewegung. In den USA haben die Republikaner einen Mann an ihre Spitze gesetzt, der aus einer ähnlich agierenden Bewegung kam, die allerdings ganz andere Ziele aufgegriffen hat als Macron

Meiner Meinung nach werden die früher linken Wähler in Deutschland nicht mehr „abgeholt“ in ihren wirklichen Sorgen und Bedürfnissen.

Die Grünen in Deutschland sind hier weiter, sie versuchen tatsächlich flexibel zu sein und auf Fragestellungen zu reagieren. Die Wahlergebnisse honorieren dies. Die Grünen haben jedoch auch einen Traditionsanteil, der Partei wird grundsätzlich Engagement für Umwelt und Frieden zugeschrieben. Das sind wieder eher abstrakte Probleme für viele Wähler.

Die AFD ist auch eine Bewegung, sie greift Stimmungen und Ängste auf und gewinnt damit Wähler. Den Beweis des „besser können“ braucht sie nicht anzutreten, die Gefahr einer Regierung durch die AFD besteht zur Zeit (noch) nicht.

Ich befürworte keineswegs einen Populismus, der irgendwelchen Wählern vorgaukelt, es würde alles gut, wenn nur alle ihr Kreuz hier machen. Die Menschen und Wähler sind jedoch emanzipiert. Parteien werden nicht mehr gewählt „weil man immer schon sein Kreuz dort gemacht hat“. Wähler sind agil und wenden sich demjenigen zu, von dem sie sich ernst genommen fühlen und der vertrauenswürdig erscheint.

Ich glaube, wenn sich die Sozialdemokratie ernsthaft mit den konkreten Sorgen wie Dieselskandal, Arbeitsplätze der Zukunft, Flüchtlingen und Integration und den Ängsten der Wähler davor, befassen würde und hier realistische Lösungen glaubwürdig anbieten würde, dann kämen auch die Wähler wieder. Dann wäre die Tradition und der Name SPD auch wieder eine Hilfe und keine Last.

Bildquellen

  • 1._Mai_2011_Hannover_Klagesmarktkreisel_Fahnenträger_der_SPD_Jusos_Jungsozialisten_in_der_SPD: WikiMedia