Eines der ersten Bücher, die ich über agile Entwicklungsmethoden gelesen habe, war von Craig Larman: Agile & Iterative Development (erschienen bei Addison-Wesley). Der Untertitel dieses Buchs lautet „A Manager’s Guide“, und es enthält neben den Beschreibungen verschiedener agiler Methoden viele Hinweise auf Fallstricke bei der Umsetzung. Besonders Manager beziehungsweise Führungskräfte, klassische Team- und Projektleiter werden angesprochen und ihr Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg agiler Entwicklung wird betont.
10 Jahre später schreibt Ian Mitchell in einem Aufsatz über die seiner Meinung nach 20 häufigsten Fehler agiler Führung, das Thema scheint heute aktueller denn je. Auch die sonstige Literatur zu Scrum und anderen agilen Methoden dreht sich aktuell weniger um die Entwicklungsmethoden an sich, sondern um die Probleme bei der Einführung in Unternehmen.
Die oft so genannte agile Transformation stellt Unternehmen insgesamt vor Herausforderungen, weil es zum Teil lange gewachsene Entscheidungs- und Führungsstrukturen gibt. Die meisten agilen Methoden, insbesondere Scrum, betonen die Eigenständigkeit der Teams, die Entscheidungsverantwortung eines „product owners“. So etwas stellt die gewachsenen Hierarchien praktisch auf den Kopf. Welche Rolle soll dann ein Abteilungsleiter, ein Bereichsleiter oder ähnlich benannte Positionen insbesondere im mittleren Management noch haben?
Diese Hierarchien bestehen aus (Plan-)Stellen, Organisationseinheiten und Stellenbeschreibungen. Das wäre leicht zu ändern. Allerdings bestehen diese Strukturen nicht nur auf dem Papier. Diese „Posten“ werden von Menschen besetzt, die menschlich verständlich um ihre Existenzberechtigung im Beruf fürchten, wenn Entscheidungen nun anderswo getroffen werden sollen. Wer ist denn für die Arbeit eines Teams verantwortlich? Das geht doch nicht ohne einen Projektleiter?
Eine erfolgreiche agile Transformation eines Unternehmens kann nur gelingen, wenn diese Menschen einbezogen werden und weiter sinnvolle Beiträge liefern können. Selbstverständlich braucht ein Unternehmen weiter ein Management. Auch Manager im mittleren Bereich werden gebraucht. Es gibt auch in agilen Unternehmen genügend Aufgaben im Bereich der Personalentwicklung, der strategischen Ausrichtung der Entwicklung, der Markt- und Kundenbeobachtung und so weiter. Jemand muss im Unternehmen die Richtung vorgeben.
Ian Mitchell spricht in einigen Punkten von einem Management-Verhalten, welches ich auch gut kenne. Ich nenne das Pseudo-Agilität. Dabei werden Begriffe aus agilen Methoden so umgedeutet, dass sie zu den bisher geübten Verhaltensweisen passen. Dadurch muss der Manager eigentlich nichts ändern, vor allem nicht sich selbst.
Beliebt scheint mir dabei insbesondere der Umgang mit einem product backlog und der Rolle des product owners zu sein. Dazu habe ich ein aktuelles Beispiel: die Kürzung des backlogs auf die für das Management relevanten Top 5-Themen.
In dem Beispiel erlebe ich immer wieder, dass es ein oder sogar mehrere Gremien aus Führungskräften gibt, die über die Aufnahme von Themen in das Backlog entscheiden. Dazu muss der product owner ein „canvas sheet“ ausfüllen und dieses einreichen. Dann wird über dieses Thema separat diskutiert und entschieden. Die Menge der Themen ist limitiert auf maximal 10, oft nur 5. Dabei geht es leider nicht um strategische Entscheidungen zu neuen Produkten, sondern um Details der Weiterentwicklung. Jedes Thema, egal wie klein, muss durch diesen Prozess. Selbst von Kunden gewünschte Verbesserungen, für die das Team nur Stunden oder wenige Tage zur Umsetzung benötigt, sind nicht ausgenommen.
Hier lebt das althergebrachte Control board in vollem Umfang weiter. Manager haben weiter das letzte Wort, auch wenn sie sich jetzt stakeholder nennen. Agil ist dabei nichts, die Reaktionszeiten auf Anforderungen der Kunden ist weiter lang, die Kosten für die Umsetzung durch die vielen Prozessschritte hoch.
Es ist selbstverständlich, dass Teams nicht einfach entwickeln sollen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Hier ist es die Aufgabe der Manager, Richtlinien und strategische Ziele vorzugeben. Die Entscheidung über konkrete Themen innerhalb des gesetzten Rahmens muss allerdings den product owner treffen und verantworten. In letzter Konsequenz haftet dieser mit seiner Position für seine Entscheidungen.
Es ist nicht immer einfach, die Grenze zwischen strategischer Richtlinie und konkreten Anforderungen zu definieren. Diese beiden Positionen gehen ineinander über. Die Entscheidung ,,wir entwickeln jetzt eine Cloud-Anwendung“ ist strategisch. Ebenso wäre etwa ,,wir machen etwas für eine neue Kundengruppe“ klar strategisch, oder auch „jede Neuerung in eine Standardsoftware kostet für die Kunden in Zukunft Geld“. Wie genau solche Ziele umzusetzen sind, ist dann Sache des product owners. Dieser kennt die konkreten Bedürfnisse der Kunden viel besser als ein Manager, er hat viel mehr Kontakte mit Kunden. Welche Funktionen in einer Cloud angeboten werden oder wofür Kunden bezahlen würden muss der product owner entschieden. Eine fachliche Weisungsbefugnis von Führungskräften gegenüber dem product owner oder den Teams zerstört die Agilität. Ich empfehle zur Abgrenzung oft ganz einfach auf den Umfang des Themas zu schauen. Wenn ein Thema mehr als zwei oder drei Sprints zur Umsetzung erfordert, ist das für mich ein Hinweis auf eine strategische Komponente.
Der finanzielle Aspekt eines Unternehmens ist eine weitere Aufgabe für Manager. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Team beliebig Entwicklungsthemen priorisieren und umsetzen könnte, ohne dass jemand auf den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens achtet. Irgendwann übersteigen die Kosten einer Entwicklung den Nutzen für die Kunden, es entsteht durch die Entwicklung kein neuer Umsatz. Die Finanzierung des Teams muss dann beendet werden. Auch umgekehrt muss für neue Ideen, neue Produkte oder Strategien ein Businessplan erstellt werden, und die Finanzierung muss entsprechend bereitgestellt werden. Die Herausforderung für Manager liegt dabei wieder in der nötigen Zurückhaltung bei Detailfragen.
Als letzten Aufgabenbereich von agilen Managern gibt es noch die Förderung der Mitarbeiter. Dies beginnt mit der Suche nach neuen Mitarbeitern mit benötigten Skills für die Aufgaben eines Teams und wird gefolgt von der Organisation von Weiterbildungen und ähnlichen Aktivitäten, die die Teammitglieder individuell voranbringen.
Manager werden also weiter gebraucht, nur ändert sich ihr Aufgabenbereich im Rahmen der agilen Transformation genauso grundlegend wie der Bereich der Entwicklungsteams. Ein Unternehmen kann nur erfolgreich agil werden, wenn alle Bereiche einbezogen werden.
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